
2015 habe ich den Wälzer (knapp 1000 Seiten!) DER ZWEITE WELTKRIEG von Antony Beevor gelesen, der u. a. über Stalins „Westdrang“ schreibt. Interessant im Hinblick auf die Historikerdiskussion über einen möglichen deutschen Präventivkrieg 1941 sind folgende Passagen:
„Stalin […] verfolgte weiter seinen […] Geheimplan, die Grenzen der Sowjetunion weiter nach Westen zu verschieben. Dabei hatte er das rumänische Bessarabien, Finnland, die baltischen Staaten und Ostpolen im Visier, besonders die Teile Weißrusslands und der Ukraine, die Russland nach der Niederlage im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1921 an Polen hatte abtreten müssen“. (S. 29)
Der Schukow-Timoschenko-Plan: Auf Seite 220 erfahren wir, dass Semjon Konstantinowitsch Timoschenko (sowjetischer Volkskommissar für Verteidigung) und Georgi Konstantinowitsch Schukow (Generalstabschef) bereits am 15. Mai 1941 ein Plandokument erarbeitet haben, welches einen „Präventivkrieg“ [sic!] gegen Deutschland zum Thema hatte. Dazu Beevor:
„Danach wurden 800.000 Reservisten einberufen und nahezu 30 Divisionen an den Westgrenzen der Sowjetunion in Stellung gebracht.“
Der Name Schukow dürfte dem einen oder anderen bekannt sein, er gewann das „Rennen“ der Sowjetgeneräle 1945 nach Berlin, was nicht verwundert, denn letztlich hielt sich Schukow an den Schukow-Plan… ^^
Er kannte die Infrastruktur und die Verhältnisse vor Ort, konnte also seine Truppen effektiver einsetzen als seine internen Kontrahenten!
Russen in der Wehrmacht: Glaubt man Beevor, so kämpften fast eine Million Sowjetbürger in den Reihen der Wehrmacht, und zwar nicht nur Ukrainer (von rund 100.000 Freiwilligen konnten, aus logistischen Gründen, nur 1/3 aufgenommen werden!), sondern auch – und vor allem – Russen! Zitat:
„[…] dienten fast eine Million Sowjetbürger an der Seite der deutschen Wehrmacht und der SS. […] Ein Kommandeur der 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend verwies später stolz auf seinen russischen Fahrer und Leibwächter, der ihn überallhin begleitete. Über 100.000 dienten […] in General Wlassows Russischer Befreiungsarmee und in einem ‚Kosakenkorps‘, das auf sowjetischem Gebiet, später auch in Jugoslawien und Italien Partisanen bekämpfte.“ (S. 478)
Warum nur, Barbarossa?
2018 habe ich von Otto Weidinger „Kameraden bis zum Ende“ [=Plesse-Verlag, 1962] gelesen. Es geht dabei um die Geschichte der Waffen-SS-Einheit „Der Führer“ [=kurz DF].
Der Buchtitel kommt zwar etwas pompös daher, jedoch ist das Buch eher wie ein Wehrmachtsbericht aufgezogen, also datenlastig, kaum mit persönlichen Erlebnisschilderungen.
Weidinger bringt auch die Erinnerungen von Kameraden mit ein, sodass man fast von einer Anthologie sprechen kann.
Die Einheit war zuerst im Westfeldzug eingesetzt [=Niederlande] um dann gen Osten verlagert zu werden [=Barbarossa].
Gerade die Inhalte über den Ostfeldzug waren für mich besonders interessant, da die Waffen-SS offenbar die gleichen Probleme hatte wie die Wehrmacht!
[Neu für mich war übrigens dass es bei Charkow einen Ort namens „Nowaja Bavaria“ gab/gibt!]
► Die Rote Armee wurde einhellig als „große Unbekannte“ bezeichnet. Es gab effektiv KEINE Feindaufklärung! Man wusste NICHTS über Stärke und Ausrüstung, was sich immer wieder verhängnisvoll auswirkte.
Als zum Beispiel der erste Feindkontakt mit dem T-34 Panzer stattfand, stellte man fest, dass die mitgeführten PaK [Panzerabwehrkanonen] nicht stark genug waren!
Die Panzer mussten regelrecht „geentert“ werden, wobei die SSler auf die Panzer sprangen, mit Handfeuerwaffen durch die Sichtschlitze schossen, Benzin ausgossen und dann anzündeten bzw. Tellerminen anbrachten.
Das war zwar akrobatisch, aber nicht immer effektiv und sorgte für unnötige Verluste. Paradoxerweise war man zuvor über die militärischen Verhältnisse in den Niederlanden bestens aufgeklärt, der weitaus gefährlichere Gegner jedoch war ein Rätsel!
Zumindest seit der Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages 1922 [der auch eine geheime militärische Klausel enthielt: die Weimarer Republik produzierte in der Sowjetunion Kriegsgüter bzw. bildete dort ihre Soldaten an „verbotenen“ Waffen – Versailler Vertrag! – aus] wusste man, dass die UdSSR massiv aufrüstete, mehr als zur Eigensicherung notwendig, die ganze Staatsökonomie war darauf ausgerichtet!
Panzermann Guderian [=Erinnerungen eines Soldaten] war selber vor Ort gewesen, hätte „zum Thema“ also befragt werden können!
Die USA belieferten die UdSSR Anfang der 1930er-Jahre mit Traktorenwerken, die zu Panzerschmieden umgebaut worden sind.
Auch die – mehr oder minder – verbündeten Staaten Finnland und Japan hätten über die Rote Armee Auskunft geben können.
Die Japaner waren in der Mongolei vernichtend geschlagen worden [die Sowjets setzten dort modernstes Gerät ein] und selbst der dilettantisch geplante „Winterkrieg“ gegen Finnland wurde letztlich durch überlegene, massiert eingesetzte Waffentechnik gewonnen!
Weshalb also kümmerten sich weder Wehrmacht noch SS um die Aufklärung?
► Eine weitere „große Unbekannte“ war das Gelände. Bei ihrem Vorstoß landete die „DF“ immer wieder in „Urwäldern“ [=O-Ton!] und Sumpfgebieten, weil die mitgeführten Karten ausgesprochen schlecht waren. Es gab KEINE Geländeaufklärung! Zum Gegner Rote Armee kam die Unwissenheit über die örtlichen Gegebenheiten!
Dabei kämpften in der Wehrmacht, als auch in der SS, eingebürgerte Ex-Sowjetbürger, in der Regel geflohene Zarenanhänger und deren Nachkommen. Diese hätte man um Informationen ersuchen können!
► Es gab von Anfang an Probleme mit dem Nachschub, schwere Waffen konnten wegen Munitionsmangels nicht eingesetzt werden. Offensichtlich war es mit Planung / Vorbereitung von Barbarossa nicht weit her, wenn selbst Eliteeinheiten nicht ausreichend versorgt werden konnten!
► Sowohl die Wehrmacht als auch die Waffen-SS statteten ihre Soldaten im Winter 1941 NICHT mit Winterbekleidung aus.
Selbst wenn man der Wehrmachtsführung unterstellt, dass man dort nicht wusste dass es in Russland ab Oktober recht frisch werden kann, hätte zumindest der ausgewiesene Bürokrat und Planer Heinrich Himmler Erkundigungen einholen können! NICHTS geschah!
Vielmehr gab sich die Führung des Dritten Reiches die Blöße und bat bei der Zivilbevölkerung um Spenden, selbst Skier standen nicht zur Verfügung!
Erklärt wird dies heute damit, dass Hitler die Rote Armee unterschätzt habe und nur von einer kurzen Kriegsdauer ausgegangen ist [=Blitzkrieg], doch selbst wenn man die Rote Armee besiegt hätte, wären Besatzungstruppen in großer Zahl notwendig gewesen um das Land zu halten, auch über den Winter hinweg!
Wo war die notwendige Winterbekleidung für diese Truppen?
Resümee
Der 22. Juni 1941 war meiner Meinung nach NICHT der „gewünschte“ deutsche Kriegsbeginn gegen die UdSSR!
JEDE Armee seit der Antike betreibt Feindaufklärung, JEDE Armee macht sich mit dem Gelände vertraut auf dem gekämpft werden soll, JEDE Armee versorgt ihre Truppen so, dass nicht bereits nach ein paar Stunden die Munition ausgeht und JEDE Armee rüstet ihre Soldaten so aus, dass diese den klimatischen Verhältnissen angepasst sind – wenn sie denn Zeit zur Planung hat!
Und ausgerechnet die bestausgerüstete und schlagkräftigste Armee ihrer Zeit tat das nicht? Barbarossa war offensichtlich eine „Hauruck“-Aktion, auch wenn entsprechende Pläne in den Schubladen gelegen haben mögen, so waren weder Wehrmacht noch Waffen-SS wirklich für einen Ostfeldzug gerüstet!
80 % der deutschen Kriegsverluste an Material und Truppe summierten sich im Osten, eben weil man unvorbereitet war!
Der Grund für Barbarossa war wohl der im Mai 1941 aufgesetzte und gleich in Aufmarschbefehle umgesetzte Schukow-Plan, der einen sowjetischen Präventivkrieg gegen das Dritte Reich vorsah!ʬ